Von Aderbecherling bis Zapfenröhrling: Im Spätsommer und Frühherbst hält der Wald ein reiches Pilzbuffet bereit, an dem sich jeder Mensch bedienen kann. Doch das Sammelfieber birgt auch Tücken.

Sonntagnachmittag, die Luft flirrt bei 27 Grad, seit Wochen hat es nicht geregnet. Trotzdem: Zeit für einen Gang in die Pilze. Der Waldweg läuft parallel zu einem Bach, einem Rinnsal eher. Thomas Schmidt führt die Teilnehmenden seines Pilzcoachings in den Reinhardswald bei Hannoversch Münden, einer Stadt zwischen Kassel und Göttingen. Schmidt – dunkle Cargohose, helles Outdoorhemd, weiße Haare – ist Pilzsachverständiger, eine jener Personen, die die Kunst des Pilzesammelns am besten vermitteln können. Zum Coaching sind angehende Waldpädagogen, Erzieherinnen und interessierte Privatpersonen gekommen.

Drei Tage lang lernen sie, wie Pilze leben, wo man sie findet und wie sie sich bestimmen lassen. „Die Pilzsaison beginnt am 1. Januar und endet am 31. Dezember“, sagt Schmidt und stapft den steilen Schotterweg empor, während die Teilnehmenden wie Spürhunde rechts und links zwischen den Bäumen verschwinden.

In die Pilze zu gehen ist ein verbreitetes Hobby. In den vergangenen Jahren erhielt es zusätzlichen Aufwind, als im tristen Pandemiealltag ein Waldspaziergang bereits einem Abenteuer glich. Pilze sind Allgemeingut und dürfen fast überall gesammelt werden (siehe Seite 80). Sie sind beliebt: Umfragen zufolge werden sie von siebzig Prozent der Bevölkerung gern gegessen. Und sie sind nahrhaft: Sie enthalten eine Vielzahl von Mineralien, Spurenelementen und Vitaminen.

Pilze sind elementare Bestandteile eines jeden Waldes. Ihre Hüte und Knollen, die zwischen Laub hervorragen und Namen tragen wie Natternstieliger Schneckling, Krause Glucke oder Kartoffelbovist, sind lediglich Fruchtkörper. Der größte Teil eines Pilzes existiert unterirdisch: ein mikroskopisch feines Netz aus Zellsträngen, Myzel genannt. Dessen wahre Größe lässt sich selten erfassen. Ein Hallimasch im US-Bundesstaat Oregon gilt als größter Organismus der Welt. Sein Myzel erstreckt sich über neun Quadratkilometer.

Erst wenn die Lebensbedingungen eines Pilzes stimmen, bildet er Fruchtkörper aus. Jede Art hat dabei ihre eigenen Ansprüche. Wer sie kennt und den Wald „lesen“ kann, weiß, wo sich die schmackhaftesten Exemplare verbergen.

Rund 14.000 Pilzarten gibt es hierzulande. Gut 200 davon führt die Deutsche Gesellschaft für Mykologie in ihrer „Positivliste der Speisepilze“: Diese Arten sind essbar. Beim mit Abstand größten Teil der Pilze wird vom Verzehr abgeraten, weil sie nicht schmecken, unverdaulich sind oder gar ernsthafte Komplikationen drohen. Rund 150 Pilzarten bilden sogar Giftstoffe. Und nicht selten haben essbare Arten giftige oder ungenießbare Doppelgänger.

<p>GLEICH ODER NICHT GLEICH? Etliche Speisepilze haben ungenießbare oder gar giftige Doppelgänger. Ohne ganz genaue Artenkenntnis geht im Wald nichts</p>

GLEICH ODER NICHT GLEICH? Etliche Speisepilze haben ungenießbare oder gar giftige Doppelgänger. Ohne ganz genaue Artenkenntnis geht im Wald nichts

Du falscher Pfifferling!

Der Pfifferling zum Beispiel, dessen dottergelber Hut zwischen Moos und Laub leuchtet: Von Weitem gleicht er dem ungenießbaren Falschen Pfifferling, im Mittelmeerraum auch dem giftigen Ölbaum-Trichterling. Nur ein genauer Blick unter den Hut zeigt die Wahrheit. Beim Echten Pfifferling ziehen dort aderige Leisten den Stiel hinab, die beiden anderen tragen dünne, ablösbare Lamellen. Im Sammelrausch fallen solche Details nicht immer auf.

Deshalb ist jeder Gang in die Pilze mit hoher Verantwortung verbunden. Nur solche Pilze, die man sicher kennt und bestimmen kann, sollten ins Körbchen. Nur: Wo verbergen sie sich?

„Ah, da geht es schon los“, sagt Thomas Schmidt. Ein Teilnehmer hockt im staubig braunen Laub und entfernt vorsichtig Blätter und Zweige von einem ebenfalls staubig braunen Pilz, der knöchelhoch aus dem Waldboden ragt. Hellgraue Flöckchen sprenkeln den Hut.

Vorsichtig dreht der Teilnehmer den Pilz heraus, klopft Erdklümpchen vom keulenförmigen Ende. Cremeweiße Lamellen ziehen sich unter dem Schirm entlang. Der Stiel ist braun gesprenkelt und am Fuß aufgerissen, in den Rissen schimmert es rosa. „Ein Perlpilz“, stellt der Kursteilnehmer fest. „Der einzige Wulstling mit rötlichen Verfärbungen“, sagt Thomas Schmidt. Essbar, mit mildem, süßlichem Geschmack. Allerdings kein Anfängerpilz. Zu leicht kann man ihn mit einem Grünen Knollenblätterpilz oder dem Pantherpilz verwechseln, beide tödlich giftig. Der Perlpilz ruht nun in einem Weidenkörbchen. Sein Finder bedeckt das Loch, das er im Boden hinterlässt, mit Laub.

Abschneiden oder herausdrehen, diese Frage kennen Fachleute gut. Ihre Antwort: Wer einen unbekannten Pilz erntet, sollte unbedingt den gesamten Fruchtkörper mitnehmen. Am Pilzfuß finden sich nicht selten wichtige, artbestimmende Merkmale. Für den Pilz dagegen ist die Sammelmethode egal. Wichtiger ist, dass die Fundstelle wieder bedeckt wird, damit das Myzel nicht austrocknet.

Pilze bestehen zu neunzig Prozent aus Wasser. Sie sind auf Feuchtigkeit angewiesen. Daher lohnt es sich, in der Nähe von Bachläufen zu suchen oder bei Trockenheit windgeschützte Hänge zu inspizieren. Bei Dürre zieht sich das Myzel in den Boden zurück und überdauert dort mitunter jahrelang. Verschwinden Pilze aufgrund der Trockenheit, bedeutet dies für das Ökosystem Wald zusätzliche Probleme. Dann fehlen Baumarten ihre Pilzpartner, von denen sie Wasser erhalten. Maronenröhrlinge und Steinpilze etwa sind symbiotisch mit Fichten und Eichen verbunden. Entdeckt man alte Exemplare dieser Bäume, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, in ihrer Nähe Pilze zu finden. „Sichere Pilzstellen gibt es nicht“, sagt Thomas Schmidt. Wichtig sei die Umgebung.

Auch andere Pflanzen können Hinweisgeber sein. Heidelbeeren etwa wachsen nur auf Böden mit saurem pH-Wert. Wo sie sprießen, wächst oft auch der begehrte Maronenröhrling oder der mild-süßlich schmeckende Frostschneckling. Morcheln dagegen brauchen kalkige Böden.

Die Gruppe zieht weiter, Laub und Zweige knistern unter jedem Schritt. Da, an einem vermoderten Baumstumpf: münzgroße, dunkelgelbe Hütchen auf schmutzig braunen Stielen. „Grünblättriger Schwefelkopf“, analysiert eine Teilnehmerin. Schmidt empfiehlt, ein winziges Stück zu probieren. Sofort breitet sich ein bitterer, metallischer Geschmack im Mund aus. Man kann nicht anders, als die Kostprobe auszuspucken. Dieser Pilz ist nicht giftig – doch eindeutig ungenießbar. Dem Grünblättrigen Schwefelkopf zum Verwechseln ähnlich sieht der Rauchblättrige Schwefelkopf, ein hervorragender Speisepilz mit mildem Aroma. Erst der Geschmack ist ein eindeutiger Hinweis auf seinen bitteren Doppelgänger. Manche Pilze bestimmt man mit allen Sinnen.

„Waldpilze kommen nicht vom Fließband“, sagt Schmidt: Ihre Merkmale können abweichen von dem, was Bestimmungsliteratur oder die eigene Erinnerung liefert. Bei Pilzen, die in den Topf kommen, sollte man daher nur zugreifen, wenn man ausschließen kann, dass es sich um giftige Arten handelt. „Niemals reicht es aus, nur Fotos zu vergleichen“, sagt Schmidt. Bücher können helfen, allerdings nur, wenn sie bereits vorhandenes Wissen ergänzen. Gerade in älterer Literatur sind Informationen oft unaktuell. Von Pilz-Apps raten Fachleute ganz ab: Tests haben gezeigt, dass sie viel zu ungenau sind.

Ist man sich unsicher über das, was man im Wald gefunden hat, helfen Pilzberatungsstellen, die es in vielen Städten und Gemeinden gibt. Hier bieten Fachleute kostenlos ihr Wissen an. Sie begutachten Pilzfunde und helfen bei der Bestimmung. Einer von ihnen ist Hansjörg Beyer, der am Botanischen Garten von Berlin einmal wöchentlich in Pilzfragen berät. Zu ihm kommen mitunter Leute mit Körben, „voll gesammelt mit allem, was sie für einen Pilz halten“, sagt er. Er sortiert die giftigen Exemplare aus.

Pilz für Pilz zum Erfolg

Rund dreitausendmal im Jahr klingelt in Deutschlands Giftinformationszentren aufgrund von Pilzfragen das Telefon. Wenn nach einer Pilzmahlzeit Magenbeschwerden oder Unwohlsein auftreten, sollte immer ihr Rat eingeholt werden. Manche Pilze verursachen sogar erst Tage nach dem Verzehr Vergiftungssymptome. Schwere Organschäden können die Folge sein, bis hin zum Tod.

Wer noch nie selbst Pilze gesammelt hat, sollte daher zuerst mit Fachleuten in Kontakt treten. Naturschutzverbände etwa bieten oft kostenlos oder für kleines Geld Pilzwanderungen an. Dort lernt man, Arten sicher zu bestimmen. Mit den Jahren der Erfahrung erweitert sich Pilz um Pilz das eigene Repertoire. Und womit steigt man ein?

Zum Beispiel mit dem Maronenröhrling, den man mit etwas Glück bei den Fichten und Heidelbeeren findet. „Ein typischer Anfängerpilz“, sagt Beyer: Unter dem braunen Hut verbirgt sich ein gelber Röhrenschwamm, der bei Berührung sofort blau anläuft. „Maronen“ können deshalb kaum verwechselt werden. Ohnehin eignen sich Röhrlinge – sie haben keine Lamellen, sondern eben Röhren unterm Hut – gut für den Anfang: Jede Art ohne rote Farben und mit braunem Hut ist höchstens ungenießbar, nie jedoch giftig.

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 5.23 "Dunkelmänner". Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!

Mehr zum Thema

Leseecke

Datendurst

Wie viel Wasser Rechenzentren verbrauchen

Leseecke

Was wirklich glänzt

Sauberer Goldschmuck

MEHR BEITRÄGE