Der Streit um die Rückkehr der Wölfe wird lauter. Wie gelingt die Koexistenz mit den streng geschützten Raubtieren? Dafür müssen wir erst einmal verstehen, wie sie ticken.

Das Tier, dessen Innovationskraft Ehrfurcht und Entsetzen verbreiten sollte, kam in der Wiege der deutschen Wölfe zur Welt, in der sächsischen Lausitz. Es ist das Frühjahr 2012 und zunächst läuft alles normal. GW267f, wie Forschende das Tier taufen, verlässt als Einjährige ihr Rudel und schnürt über Zwickau 320 Kilometer westwärts bis zum Standortübungsplatz Ohrdruf. Sie ist die erste Wölfin in Thüringen. Zum Territorium kürt sie ein hügeliges Idyll mit Laubmischwald und extensiv beweidetem Grünland. Mangels Artgenossen paart sie sich mit einem streunenden Hund und gebärt sechs Mischlingswelpen. Es ist wohl die Not der Alleinerziehenden, die sie erfinderisch macht. Die ersten fünf Jahre ihres Lebens hat sie sich hauptsächlich von Rehen ernährt. Jetzt reißt sie für sich und ihre Jungen binnen Monaten achtzig Schafe und Ziegen. Die Schäfer der Gegend sind schockiert. Auf Rat von Fachleuten treiben sie ihre Tiere nun Nacht für Nacht in elektrisch gesicherte Pferche und schaffen sich Herdenschutzhunde an. 2019 paart sich GW267f zum zweiten Mal mit einem Hund, bringt fünf Hybriden zur Welt und tötet mehr als 170 Schafe, fünf Fohlen und sechs Kälber. Obwohl zumindest die Schafe hinter Zäunen mit einigen Tausend Volt Spannung standen.

Normalerweise suchen Wölfe Schlupflöcher in Hindernissen oder buddeln sich drunter durch. Sie meiden Verletzungsrisiken durch Sprünge. Doch eines Nachts im August 2020 wird GW267f von einer Fotofalle erwischt. Auf dem Schwarz-Weiß-Bild fliegt ein Rumpf mit angewinkelten Beinen über den Zaun mit Flatterbändern, die abschrecken sollen. Das Bild gelangt in die Presse und macht die Gerissenheit der "Ohrdrufer Wölfin" berühmt. "Wölfe sind intelligent, lernfähig und sehr flexibel", sagt Kurt Kotrschal, Verhaltensforscher und Mitbegründer des Wolfsforschungszentrums bei Wien. "Wenn es darum geht, sich an die Umwelt und an soziale Bedingungen anzupassen, liegt die Intelligenz von Wölfen fast auf dem Niveau von Menschen."

Kein Landsäugetier außer dem Menschen hat sich auf natürliche Weise weiter ausgebreitet als der Wolf: von Nordgrönland bis Südindien. Bis der Spitzenreiter in Migration, der Mensch, die Nummer zwei weitgehend ausrottete, vor allem in Westeuropa. Seit der Jahrtausendwende, seit Ende der Bejagung, wandern die Raubtiere von Polen über Sachsen und Brandenburg nordwestwärts Richtung Mecklenburg-Vorpommern und Niedersachsen.

<p>Viel haben die Wölfe von der Hirschkuh nicht übriggelassen, die sie 2013 auf dem Truppenübungsplatz Munster in der Lüneburger Heide gerissen haben. Militärische Sperrzonen, aktive wie ehemalige, bieten viel Platz, Ruhe und Wild – sie sind ideale Wolfsreviere</p>

Viel haben die Wölfe von der Hirschkuh nicht übriggelassen, die sie 2013 auf dem Truppenübungsplatz Munster in der Lüneburger Heide gerissen haben. Militärische Sperrzonen, aktive wie ehemalige, bieten viel Platz, Ruhe und Wild – sie sind ideale Wolfsreviere

Nach der jüngsten Erhebung vom November 2022 leben nun bundesweit in 230 Territorien 162 Rudel, 47 Paare und 21 Einzeltiere, insgesamt mehr als 1200 Wölfe. Zu fast 95 Prozent jagen sie Rehe, Hirsche und Wildschweine, doch rissen sie im vergangenen Jahr auch 4366 Nutztiere. Zu 89 Prozent sind das Schafe und Ziegen, daneben 262 Rinder, meist Kälber, und Gatterwild. Die Population wuchs erst exponentiell, um rund dreißig Prozent pro Jahr, zuletzt hat sich das Wachstum etwas verlangsamt. Doch eine Deutschlandkarte, in der die bisher besiedelten Reviere markiert sind, zeigt: Mehr als zwei Drittel des Landes sind noch frei.

Die Zuwanderung entfacht in der Bevölkerung starke Emotionen von Angst über Freude und Faszination bis Hass. Der Wolf polarisiert. Einige fordern den pauschalen Abschuss – "Wölfe passen nicht in unsere Kulturlandschaft" – und erlegen die Tiere illegal. Auf der anderen Seite sägen militante Wolfsfreunde Jagdhochsitze an oder fackeln sie ab und drohen mit Mord. Niedersachsens Umweltminister Christian Meyer musste lesen: "Wenn Wölfe entnommen werden, werden auch Sie entnommen."

Schwarz oder weiß, gut gegen böse, populistische Wir-gegen-die-Aufrufe sind typische Verhaltensmuster von Menschen, die sich von einer komplexen Situation überfordert fühlen. Der Wolf mag flexibel sein – die Menschen zeigen sich eher stur und gehen sich gegenseitig an die Kehle. Heraus ragt ein Vorschlag mit dialektischer Logik. Abschüsse seien nötig, hat Bundesumweltministerin Steffi Lemke jüngst gesagt, "um die Akzeptanz zum Schutz des Wolfs aufrechtzuerhalten". Schützen durch Schießen?

Nach 160-jähriger Abwesenheit schiebt der Wolf Fragen an, die an Grundfesten der Gesellschaft rütteln, unser Bild von der Natur verrücken und unsere Tierliebe auf die Probe stellen. Es geht um Macht und Kontrolle: Wie viel davon sind wir bereit abzugeben, wie viel Wildnis lassen wir zu? Konkreter: Wie viele grausame Bisswunden wollen wir Nutztieren, welche psychische Belastung Landwirtinnen und Landwirten zumuten? Es droht ein überraschender Konflikt: Wolfsschutz versus Artenvielfalt.

Das wird deutlich, wenn man sich die Orte des Schreckens ansieht. Oft reizvolle Landschaftsschutzgebiete oder Biosphärenreservate, in denen mutmaßlich zufriedene Weidetiere an frischer Luft mit frischem Gras Landschaftspflege betreiben. Bei Ohrdruf sickerte das Blut der Schafe in Thüringens größten Halbtrockenrasen. Orchideen wie der seltene Frauenschuh wachsen hier, gefährdete Insekten wie der Goldene Scheckenfalter und der Wiesenknopf-Ameisenbläuling flattern umher, am Boden nisten Braunkehlchen, Weihen und Wiesenpieper. Mehr als 10.000 Hektar sind als Flora-Fauna-Habitat ausgewiesen.

<p>Die Aufnahme einer Fotofalle vom August 2020 belegte, dass die „Ohrdrufer Wölfin“ gelernt hatte, vermeintlich sichere Elektrozäune mit Flatterbändern zu überspringen. Das 2021 gestorbene Tier galt als besonders intelligent – und tötete Hunderte Weidetiere</p>

Die Aufnahme einer Fotofalle vom August 2020 belegte, dass die „Ohrdrufer Wölfin“ gelernt hatte, vermeintlich sichere Elektrozäune mit Flatterbändern zu überspringen. Das 2021 gestorbene Tier galt als besonders intelligent – und tötete Hunderte Weidetiere

In den vergangenen Jahren hatte Gerd Steuding für diese Schönheit keine Augen. Stattdessen sah er morgens, wenn er zu seinen Merinolangwollschafen fuhr, wiederholt ein "Armageddon". Etliche lagen tot am Boden, manche mit aufgerissenem Brustkorb, andere mit herausquellendem Pansen oder Uterus. Er erinnert sich an einen Embryo, der noch zappelte. Am schlimmsten war es, sagt er, wenn die verletzten Tiere noch lebten, sie zitternd dastanden und schließlich tot umfielen. Steuding ist Leiter der Schafhaltung eines Agrarbetriebs im nahen Schwabhausen. Mit 2500 Tieren, vier Schäfern und drei Lehrlingen sorgt er dafür, dass das riesige Biotop nicht verbuscht. Er macht und mag die Arbeit seit vielen Jahren. Doch die Sache mit den Wölfen geht ihm und seinen Kollegen an die Nieren. Zu allem Überfluss bekommen sie Kommentare zu hören wie: "Was habt ihr denn, ihr bekommt die Tiere doch erstattet." "Als wären wir eiskalt", schimpft Steuding. "Als ginge es nur ums Geld."

Es trifft die Falschen. Der Wolf dringt nicht in dunkle Ställe mit massenhaft zusammengepferchten Tieren (was diesem natürlich auch nicht zu wünschen wäre), sondern attackiert naturnah gehaltene Herden. Der Idealismus ihrer Besitzer ist unbezahlbar, ihre Margen sind gering. Ausgerechnet sie haben mit dem Wolf ein zusätzliches Problem am Hals.

Zwar wird die Anschaffung von Elektrozäunen und Herdenschutzhunden bezuschusst. Doch nur unter bestimmten Voraussetzungen und bis zu einer Höchstgrenze. Ein ausgebildeter Herdenschutzhund kostet rund 6000 Euro, subventioniert wird etwa die Hälfte; Futter und Tierarzt zahlen die Schäfer. Der tägliche Aufbau mobiler Zäune dauert pro Pferch rund eine Stunde. Für Rinder werden Festzäune mit waagerechten Drähten empfohlen, die nicht mit Grashalmen in Kontakt kommen dürfen, das würde den Stromfluss ablenken. Also muss regelmäßig unter den Zäunen per Hand gemäht werden. Währenddessen drückt die Angst vor dem nächsten Übergriff. Nicht selten kommt es zum "Overkill" oder Blutrausch. "Noch mal so was und ich hör auf", hat Steuding von vielen Kollegen gehört.

Wie lassen sich Wölfe und die Pflege offener Landschaften vereinbaren? "Nur durch flächendeckenden Schutz aller Weidetiere", sagt Kenny Kenner. Seit 14 Jahren ist er ehrenamtlicher Wolfsberater in Niedersachsen, inzwischen das Bundesland mit der zweithöchsten Zahl an Wolfsrudeln (34; Brandenburg hat 47). Kenner hat zahlreiche Risse begutachtet und Landwirte beraten. Er hat ihnen geholfen, Zäune auf Deichen und in Hochwassergebieten zu errichten, was nicht trivial ist. "Die Profis", sagt Kenner, "haben ihre Weiden inzwischen gut gesichert. Das Problem sind die Hobbytierhalter." Oft wohlmeinende Naturfreunde, die zehn Schafe zum Vergnügen oder zwei als Rasenmäher im Garten halten. "Die werden bockig, wenn man sie bittet, Elektrozäune anzuschaffen. Ist ihnen zu aufwendig."

So beginnt ein Dominoeffekt. Mit ungeschützten Schafen lernt ein Wolf, wie lecker die sind, und überspringt plötzlich Elektrozäune. Was jene Halterinnen und Halter, die Zeit, Geld und Hoffnung in die Anschaffung investiert haben, frustriert. Manche geben auf, andere werden empfänglich für rabiatere Methoden. Kenny Kenner hat selbst jahrelang mehr als sechzig Schafe gehalten und weiß, wie schmerzhaft Verluste sind. Doch auf gesellschaftspolitischer Ebene findet er die Situation hochspannend. Er hat Publizistik studiert und in den Achtzigerjahren Dokumentarfilme über Hausbesetzungen in Berlin gedreht. Den Konflikt um den Wolf findet er vergleichbar. Statt wohnungssuchender Rebellen kommen jetzt migrierende Wölfe, die leerstehende Räume besetzen. Die Nachbarn fühlen sich bedroht und rufen nach Recht und Ordnung.

Weitere Parallele: Die Ersten erregen den meisten Ärger. Jungwölfe, die sich auf Wanderschaft begeben, sind risikobereit, offen für alles, was ihren Hunger stillt. So manche Blutspur ist dokumentiert. Ein Rüde hat auf dem Weg von Lüneburg nach Dänemark 120 Schafe gerissen. Spannend ist, was dann geschah: Er gründete eine Familie und rührte seine Lieblingsspeise kaum mehr an. In diesem Verhalten liegt die Chance für eine künftige Koexistenz.

Denn es ist ein Muster. Das belegt eine Studie im französischen Tierpark SainteCroix bei Nancy. Forschende der schweizerischen Beratungszentrale für Landwirtschaft untersuchten, wie zwei Wolfsrudel auf elektrifizierte Weidenetze und Drahtzäune reagieren. Sie ließen die Tiere vier Tage hungern, dann führten sie sie zu Zäunen, hinter denen Fleisch lag. Das erste Rudel bestand aus sieben Geschwistern. Das zweite war eine klassische Familie: Eltern und fünf Junge. Alle hielten zunächst respektvoll Abstand. Doch das Geschwisterrudel ohne klare Hierarchie näherte sich dem Zaun schneller, einzelne Charaktere erkundeten ihn besonders forsch. In der Familie dagegen hielten die Eltern ihre Jungen in Schach, vertrieben sie gar durch Bisse, wenn sie dem Strom zu nahe kamen. Ihr Verhalten "ähnelt dem menschlichen", sagt Riccarda Lüthi, eine der Forschenden. "Junge Individuen sind mutig, getrieben von Forscherdrang und jugendlichem Leichtsinn. Eltern wollen ihre Kinder vor Gefahren schützen."

<p>VORSICHTIG Auf dem Truppenübungsplatz Altengrabow in Sachsen-Anhalt enstanden 2012 Fotos eines Paares, das bereits viermal Nachwuchs bekommen hatte, zwanzig Welpen. Die aufmerksame Haltung ist typisch: Wölfe gehen dem Menschen meist – aber nicht immer – aus dem Weg</p>
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VORSICHTIG Auf dem Truppenübungsplatz Altengrabow in Sachsen-Anhalt enstanden 2012 Fotos eines Paares, das bereits viermal Nachwuchs bekommen hatte, zwanzig Welpen. Die aufmerksame Haltung ist typisch: Wölfe gehen dem Menschen meist – aber nicht immer – aus dem Weg

 

Eine funktionierende Kernfamilie, folgern Fachleute, ist berechenbarer und für Weidetiere weniger gefährlich als halbstarke Hitzköpfe. Darum warnen sie vor der populären Idee des "Bestandsmanagements". Dabei wird eine Maximalmenge an Wölfen festgelegt und alles darüber hinaus erschossen. In diese Richtung weist die Forderung des Deutschen Bauernverbands, "Problemwölfe bis hin zu ganzen Rudeln" zu erlegen. Damit, so Experten, würden etablierte Wolfsstrukturen zerstört, deren Lücken durch junge, unbequeme Nachrücker gefüllt. Was dann im Extremfall passiert, zeigt ein Fall südlich von Cuxhaven. Dort verschwand auf ungeklärte Weise erst der Vater, dann erlag die Mutter einer illegal abgefeuerten Kugel. Zurück blieb eine Handvoll führungsloser Welpen. Eines Nachts brach eine Rinderherde aus. Sie wurde ein paar Kilometer weiter eingesammelt, doch fehlte eine Milchkuh. Sie steckte in einem Graben. Heiner Schumann, Wildtierökologe am Thünen-Institut für Waldökosysteme, arbeitete damals als amtlicher Rissgutachter in der Gegend. "Das Hinterteil war komplett zerfressen", erzählt er. "Einige der Jungwölfe waren auf dem Rücken herumgesprungen und hatten versucht, Stücke entlang der Wirbelsäule herauszureißen, ein anderes Tier hatte die Kuh an der Nase fixiert. Das Rind wies keinen Kehlbiss auf, es wurde lebend gefressen." So begann "die Serie". Über ein Jahr wurde Schumann ein bis zwei Mal die Woche zu übel zugerichteten Rindern gerufen, die in tiefen Gräben steckten. Die flache ehemalige Moorlandschaft zwischen Elbe und Weser ist von Zehntausenden Entwässerungsgräben durchzogen, die zugleich die Weiden begrenzen. "Niemand hatte geahnt, dass Wölfe sie zur tödlichen Falle umfunktionieren würden." Die Wolfswaisen haben in ihrer Not experimentiert. "Irgendwann trieben sie wohl zufällig das erste Tier in einen Graben, dann spezialisierten sie sich auf die Technik." "Wenn Wölfe ein Ziel erreichen wollen, verfolgen sie es konsequent", sagt Wolfsforscher Kurt Kotrschal. Er und sein Team untersuchten, wie Wölfe im Vergleich zu Hunden auf Neues reagieren. Mal legten sie eine große Stoffpuppe ins Gehege, mal ein altes Fahrrad. Während die Hunde oft achtlos daran vorbeiliefen, zeigten die Wölfe stets Interesse. "Sie näherten sich den Gegenständen vorsichtig und erforschten sie, bis sie sie durchschaut, sprich: komplett zerlegt hatten." Wölfe, so Kotrschal, seien "darauf spezialisiert, Situationen zu checken und Schwachstellen zu finden". Die größten Schwachstellen in Deutschland sind ganze Landstriche. Neben von Gräben zerschnittenen Weiden vor allem die Alpen. Steiles, zerklüftetes Gelände mit Senken und Bächen lässt sich kaum bezäunen. Zumal bayerische Bäuerinnen und Bauern ihre Tiere oft auf weit verstreut liegenden Almen grasen lassen. Freilaufende Herdenschutzhunde sind schwierig: Sie verteidigen ihr Revier aggressiv auch gegen Wanderer. Im italienischen Trentino und Ligurien, wo der Wolf nie verschwunden war, betreuen Hirten mit Hunden ihre Schafe rund um die Uhr. Theoretisch könnte man die uralte Kulturtechnik in Deutschland wiedereinführen. Doch wer bezahlt die Hirten? Bayerns Bauernverbände fordern darum freie Schussbahn, sekundiert von der Regierung. "Ein Riss reicht", hat Ministerpräsident Markus Söder verkündet. Sobald ein Wolf ein Nutztier tötet, soll es erlaubt sein, alle Wölfe der Gegend zu erlegen. Dass das gegen geltendes Recht verstoßen würde, scheint Söder nicht zu stören.

Das benachbarte Baden-Württemberg weist einen Ausweg. Die Berge sind nicht so schroff wie in Bayern, doch auch Schwarzwald und Schwäbische Alb weisen steiles, unzäunbares Gelände auf. Auch hier streifen Wölfe erst seit wenigen Jahren herum. Unberechenbare Einzelgänger. Am Schluchsee fraß ein Rüde jahrelang fast nur Wild – bis er plötzlich sechs bis zehn Monate alte Rinder überfiel, bis zu 400 Kilogramm schwer. Wenn der Besitzer, Biolandwirt Markus Kaiser, an das Gemetzel denkt, fällt auch bei ihm der Satz: "Noch ein, zweimal so was, dann höre ich auf." Es wird nicht leicht, das zu verhindern. Die Topografie hier ist krass, der Tourismus rege, Elektrozäune und Hunde scheiden aus. Kaiser fordert dennoch keine rächenden Kugeln, sondern nimmt mit neun weiteren Höfen an einem Modellprojekt teil, das alternative Methoden testet. Junge Rinder sollen gemeinsam mit älteren, erfahrenen, möglichst wehrhaften Tieren weiden. Kleine Kälber unter acht Wochen übernachten wie Schafherden hinter 90 bis 120 Zentimeter hohen Elektrozäunen. Das Projekt wird von Bauernverbänden, Naturschutzbund und Umweltministerium unterstützt. Die Akteure haben ein "Thesenpapier für eine Weidetierhaltung mit Zukunft" formuliert und beteuern, gemeinsam "vernünftige Lösungen" finden zu wollen.

Eine moderierende Rolle spielt die Forstliche Versuchs- und Forschungsanstalt (FVA) des Landes. Anders als in anderen Bundesländern sind hier drei Aufgaben gebündelt: Wolfsmonitoring, Rissbegutachtung und Herdenschutzberatung. Biobauer Kaiser ist voll des Lobes über die Mitarbeiterinnen: "Nach den Rissen waren sie sofort zur Stelle. Sie haben die Tiere sorgfältig begutachtet, Proben genommen und gesagt, was zu tun ist." Das Zusammenspiel funktioniert, weil die Akteure bereit sind zu Kompromissen. Der wohl entscheidende: "Wenn ein Wolf Herdenschutzmaßnahmen zweimal überwunden hat, soll es erlaubt sein, ihn zu entnehmen", so Laura Huber-Eustachi von der FVA.

Auf diese Formel können sich immer mehr Fachleute einigen. Es wäre die Anwendung der Dialektik von Umweltministerin Steffi Lemke. Der europäische und nationale Schutzstatus des Wolfs müsste gelockert werden. Derzeit gilt er durch die Berner Konvention, die FFH-Richtlinie und das Bundesnaturschutzgesetz als streng geschützte Art. Entscheidender aber dürfte sein, dass die Gesellschaft sich mit fünf unbequemen Wahrheiten anfreundet.

  • Der Wolf breitet sich weiter aus. Die jetzige Population wird sich mindestens verdreifachen.

  • Sämtliche Weiden in Deutschland müssen sorgfältig eingezäunt und unter Strom gesetzt werden. Das ist viel Arbeit für die Landwirte, ändert das Landschaftsbild und kostet Geld. Im letzten Jahr wurde der Herdenschutz mit 18 Millionen Euro gefördert.

  • Ein hundertprozentiger Schutz ist unmöglich. Es wird immer wieder gerissene Schafe, Ziegen, seltener Kälber und Fohlen geben.

  • In schwierigem Gelände, besonders im alpinen Raum, muss eine Rückkehr zur 24/7-Behirtung durch Menschen vor Ort, flankiert von Hunden, gefördert werden. Sonst wird die Beweidung womöglich aufgegeben und die Verbuschung beginnt.

Dass Wölfe scheu sind, ist ein Mythos. Sie sind vorsichtig und konfliktscheu, aber auch neugierig. Sie werden sich Menschen immer wieder mal bis auf fünfzig oder dreißig Meter nähern. Ihre Neugier, Intelligenz und Lernfähigkeit – das ist die gute Nachricht – lassen sich für den Herdenschutz nutzen. Die Tiere lernen nicht nur, Zäune zu überspringen und Kälber in Gräben zu treiben – auch Stromschläge sind ihnen eine Lehre. Während der Versuche im französischen Park bekamen einige Individuen einen gewischt, als sie die Maschen beschnupperten oder hineinbissen. Aufheulend verzogen sie sich in die hinterste Ecke des Geheges. Selbst als Tage später der Elektrozaun entfernt wurde und das Fleisch frei zugänglich liegen blieb, verharrten sie dort. Solche prägenden Erfahrungen geben die Tiere an die nächste Generation weiter. So ist zu erklären, dass in Gegenden, in denen dieselben Rudel seit Jahren leben und wo Landwirte ihre Tiere mit gut gewarteten Elektrozäunen schützen, kaum noch Übergriffe geschehen. In Sachsen etwa konzentrieren sich alteingesessene Wolfsfamilien auf die Regulierung des Wildbestands und vertreiben draufgängerische Artgenossen aus dem Revier. Schäfermeister Frank Neumann etwa, der vor zwanzig Jahren schlimme Erfahrungen mit den ersten Wölfen machte, sagt heute: "Der beste Schutz für meine Schafe ist mein Wolfsrudel."

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe 6.23 "Intelligenz". Das Greenpeace Magazin erhalten Sie als Einzelheft in unserem Warenhaus oder im Bahnhofsbuchhandel, alles über unsere vielfältigen Abonnements inklusive Prämienangeboten erfahren Sie in unserem Abo-Shop. Sie können alle Inhalte auch in digitaler Form lesen, optimiert für Tablet und Smartphone. Viel Inspiration beim Schmökern, Schauen und Teilen!

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