Anastasiia Bilych arbeitet für den größten ukrainischen Hersteller und Exporteur von Bio-Agrarprodukten, der unter anderem Soja, Weizen und Sonnenblumenöl in die Welt verkauft. Wie das in Zeiten des Krieges funktioniert, warum die Prinzipien der Ökobewegung gerade jetzt so wichtig sind und wieso sie ihre Heimat trotz schrecklicher Erlebnisse nicht verlassen mag, hat sie dem Greenpeace Magazin erzählt.

Heute Morgen, an einem Tag im Mai, wurde ich um vier Uhr früh vom Lärm der Sirenen aus dem Schlaf gerissen. Kurz darauf, zum ersten Mal seit vielen Wochen, hörte ich unsere Raketenabwehr, das Zischen der russischen Missiles und die Alarmanlagen der Autos in unserer Nachbarschaft, die auf die Einschläge reagierten. Es war schrecklich. Ich habe den Rest der Nacht in unserem Schutzkeller verbracht und fühlte mich augenblicklich an den 24. Februar 2022 zurückversetzt, als die Angriffe auf meine Heimat begannen. Ich werde das nie vergessen: Kurz zuvor hatten wir in unserer Firma Arnika Organic noch große Pläne geschmiedet. Welche Chancen würden sich für uns aus dem Green Deal der EU ergeben? Wie steigern wir unsere Exporte nach Japan und in die USA? Wie schaffen wir es, den Anteil der Biolandwirtschaft in der Ukraine weiter zu erhöhen?

Wir hatten gerade mit dem Landwirtschaftsministerium und Partnerfarmen ein Biodiversitätskonzept entwickelt. Auf unseren Feldern sollten kleine Wildflächen entstehen. Erstmals lagen uns auch Zahlen zu unserem CO2-Fußabdruck vor – und von einem Moment auf den nächsten kam alles zum Stillstand. Ich weiß noch, wie ich meinen Eltern, die 800 Kilometer von Kiew entfernt leben, sofort eine Nachricht geschrieben habe. „Es ist Krieg!“ Dann packte ich das Nötigste, Ausweispapiere, Bargeld, Lebensmittel, warme Kleidung, und zog in den Schutzraum, wo ich die nächsten Tage verbracht habe. Wir wussten ja nicht, was wird, und ob unser Militär die russischen Truppen und Raketen überhaupt würde abwehren können. An der Tür zu unserem Keller wachten Männer mit Baseballschlägern.

Als ich nach einigen Tagen zum ersten Mal wieder draußen in der fast menschenleeren Stadt stand, fühlte sich alles unwirklich an. Das Leben würde nicht mehr sein wie vorher. An Arbeit für meine Firma war vorerst nicht zu denken, ich habe mich den Helferinnen und Helfern angeschlossen. Wir brachten Lebensmittel, Medizin, Kleidung, Zigaretten, Ladegeräte, eben alles, was gebraucht wurde, zu unseren Soldaten und organisierten Essen für die Schutzräume. An den Verteidigungslinien rund um Kiew kämpften Männer und Frauen, die wenige Tage vorher noch in Büros und Fabriken gearbeitet hatten, so wie wir. Wir alle spürten die Angst, aber auch einen großen Zusammenhalt. Auf Onlineforen konnte man angeben, was man brauchte, ich las von einem Soldaten mit Schuhgröße 48, der bei Eiseskälte in seinen Sommerschuhen im Einsatz war. Ich habe ein Sportgeschäft nach dem anderen angerufen, bis ich endlich eines erwischt hatte, das bereit war, kurz zu öffnen und mir ein Paar Winterstiefel in dieser Größe zu verkaufen. Als ich dem Mann die warmen Stiefel übergeben konnte, war das ein großer Moment für mich.

Ich habe mich auch sofort zum Blutspenden gemeldet. Ich habe AB Rhesus-negativ, eine sehr seltene Blutgruppe. Ich dachte einfach, wer sein Blut für unser Land gibt, verdient, dass wir im Notfall auch für ihn da sind.

<p>NAHAUFNAHMEN AUS DEM KRIEG Der Stau von Flüchtenden am Morgen des russischen Angriffs, aus dem Fenster fotografiert; die Autorin beim Sortieren gespendeter Medikamente und mit einem Nachbarskind im Luftschutzkeller; Spuren des Krieges, Lebensmittelhilfe für das Umland Kiews, Kellerhunde, ein Feld in Arbeit – Anastasiia Bylich hielt alles auf dem Smartphone fest und stellte uns ihre Aufnahmen zur Verfügung</p>

NAHAUFNAHMEN AUS DEM KRIEG Der Stau von Flüchtenden am Morgen des russischen Angriffs, aus dem Fenster fotografiert; die Autorin beim Sortieren gespendeter Medikamente und mit einem Nachbarskind im Luftschutzkeller; Spuren des Krieges, Lebensmittelhilfe für das Umland Kiews, Kellerhunde, ein Feld in Arbeit – Anastasiia Bylich hielt alles auf dem Smartphone fest und stellte uns ihre Aufnahmen zur Verfügung

Nach einigen Wochen konnten die ersten Hilfslieferungen in das Umland gebracht werden. Ich bin mit nach Irpin oder Butscha gefahren. Wie nahe das alles ist, dachte ich, die Morde, die Vergewaltigungen. Im Park von Butscha war ich kurz zuvor noch spazieren gewesen. Ich kam in Dörfer, in denen die Menschen alles, wirklich alles verloren hatten: ihre Liebsten, ihre Häuser, sie hatten Schreckliches erlebt. Überall Zerstörung, Leichen, Ruinen. In der Luft die Asche der Träume, die die Menschen hier einmal hatten. Ich sah den Tod. Ich roch ihn. Ich fühlte ihn.

Geschlafen habe ich in diesen Wochen so gut wie nie, ich war völlig erschöpft. Es war an einem Tag im Mai, an dem ich beschloss, meine Matratze wenigstens einmal vom Fenster zu nehmen, wo sie mein kleines Apartment vor Splittern schützen sollte. Ich wollte endlich einmal wieder in einem richtigen Bett schlafen, mir war alles egal, ich war viel zu müde, um Angst zu haben. Ich schlief wie ein Stein.

In dieser Zeit habe ich auch wieder angefangen, für unsere Firma zu arbeiten. Ich hatte in Kiew Agrarökonomie studiert, später auch mal zwei Jahre in Deutschland für ein Unternehmen gearbeitet, das sich um den Biohandel mit der Ukraine kümmert. Mein Job war es, die Biobauern bei uns mit den EU-Regularien und dem Exportmanagement vertraut zu machen. Bei Arnika Organic bin ich zuständig für internationale Marktanalysen und kümmere mich um unser Engagement in Sachen Biodiversität, Umweltschutz und soziale Fragen. Zu uns kommen immer mehr junge Agrarfachleute, denen gerade diese Themen wichtig sind. Sie wollen etwas Sinnvolles tun.

Für meinen Chef war es total in Ordnung, dass ich mich erst einmal als freiwillige Helferin engagiert hatte. Er wollte, dass ich in die Zentrale in die Region Poltava komme, 400 Kilometer von Kiew entfernt. Dort sei es sicherer, meinte er. Aber ich wollte Kiew nicht verlassen. Ich lebe seit 17 Jahren hier, das sind meine Straßen und meine Mauern, ich wollte mich nicht von den Russen aus meinem Leben vertreiben lassen. Und ich dachte immer, so seltsam das klingen mag, dass ich im Auge des Orkans geschützter sein würde. Unsere Hauptstadt ist der größte Preis, sie würden wir bis zum Letzten verteidigen, hier gehöre ich hin.

Nicht einer unserer Mitarbeitenden hat unsere Firma seit Kriegsbeginn verlassen. Die, die aus der Ukraine geflohen sind, arbeiten aus dem Ausland weiter für uns, was sogar gut ist, weil wir dann bessere Kontakte in die Länder haben, die wir beliefern.

Nicht eine unserer Farmen hat sich von der Biolandwirtschaft abgewandt, so schwierig die Bedingungen für die Arbeit und die Zertifizierung auch gewesen sind. Zu Beginn des Krieges haben manche Bauern nachts gearbeitet, mit Helmen wie die Soldaten.

Für uns ist öko nicht einfach eine Option unter vielen. Lebensmittel im Einklang mit der Natur herzustellen, und zwar so, dass kommende Generationen auch noch in einer gesunden Umwelt aufwachsen können, ist eine Entscheidung, von der wir uns nicht abhalten lassen, schon gar nicht durch einen uns aufgezwungenen Krieg.

Die Bioszene in der Ukraine ist noch recht klein. Zwar gibt es mehr als 500 Ökobetriebe, aber der Bioanteil an der gesamten Landwirtschaft liegt bei unter zwei Prozent. Unsere Regierung hat sich dazu verpflichtet, den Ökolandbau bis 2030 zu verdoppeln. In vielen Städten entstand vor dem Krieg eine rege Szene mit Biogeschäften, die immer beliebter wurden. Als ich wenige Wochen nach Kriegsbeginn in einem Supermarkt erstmals wieder Biojoghurt und -käse im Kühlregal gesehen habe, hat mich das sehr berührt. Wir lassen uns nicht unterkriegen, dachte ich.

Wir haben viel Hilfe von der Ökobewegung aus dem Ausland bekommen, für die wir sehr dankbar sind. Maschinen, Logistik, Materialien, Benzin. Vieles kam aus Deutschland, wohin seit Längerem eine enge Zusammenarbeit besteht. Die vom deutschen Landwirtschaftsministerium finanzierte „DeutschUkrainische Kooperation Ökolandbau“ (COA) hat sehr geholfen, ebenso die Spenden der „Nothilfe Ukraine Ökolandbau“, die mehr als 170 Biobetriebe unterstützt hat. Auch aus Österreich, der Schweiz und aus den Niederlanden, also den Ländern, in die wir schon vorher die meisten unserer Erzeugnisse geliefert hatten, gab es Geld, Sachspenden und aktive Hilfe bei der Logistik.

<p>UNERSCHÜTTERLICH Anastasiia Bylich kennt die<em> </em>Herausforderungen der Kriegswirtschaft aus erster Hand</p>

UNERSCHÜTTERLICH Anastasiia Bylich kennt die Herausforderungen der Kriegswirtschaft aus erster Hand

Im Juli 2022, fünf Monate nach Ausbruch des Krieges, war ich mit einer ukrainischen Delegation auf der Biofach, der Lebensmittelmesse in Nürnberg. Es war sehr aufwühlend, wir haben viel geweint und uns immer wieder umarmt, aber es war auch sehr ermutigend, dass uns so viele Menschen und Organisationen unterstützen. Es fühlte sich seltsam an, nach elf Uhr abends auf der Straße sein zu können. Als der Krieg begann, gab es bei uns nach 15 Uhr eine strenge Ausgangssperre. Alle Lichter gingen aus, diese Dunkelheit war entsetzlich.

In diesem Jahr waren wir im Februar wieder auf der Biofach mit einem Stand vertreten. Es ging da schon wieder viel geschäftsmäßiger zu. Für uns ist es sehr wichtig, unsere Produkte weiter liefern zu können. Der Markt in der Ukraine ist sehr schwierig, Millionen Menschen sind geflohen, darunter viele, die zu unseren Kunden gehört hatten. Wir wollen nichts geschenkt, wir brauchen Persönlichkeiten und Unternehmen, die weiter an uns glauben und in der Ukraine investieren. Wir brauchen kein Mitleid, sondern Kunden und Partner.

2022 haben wir 226.000 Tonnen Bioprodukte aus der Ukraine in die EU und die Schweiz exportiert, 13 Prozent mehr als im Vorjahr. Mehr als 40.000 Tonnen kamen von Arnika Organic. Und das, obwohl die Ukraine im Krieg ein Viertel ihrer BioAnbauflächen verloren hat. Der Krieg ist geblieben, die Herausforderungen haben sich verändert. 2023 gibt es eine hohe Inflation, die Logistik ist nicht einfacher geworden. Ich möchte hier nicht zu viel über unsere Strategien verraten, wir wollen keine Hinweise geben, wo man uns am empfindlichsten treffen könnte. Denn eines ist klar: Es geht Russland nicht um militärische Ziele, sondern um Terror und darum, uns als Ukraine zu vernichten. Ich wohne ein paar Kilometer vom Zentrum Kiews entfernt, in einem Viertel mit elf Hochhäusern, 16 Stockwerke hoch. Hier leben Familien, Kinder, Ältere, etwa tausend Menschen insgesamt. Wer uns beschießt, Bauernhöfe, Elektrizitäts- oder oder Wasserwerke, der zielt nicht auf „militärische Infrastruktur“. Die Front verläuft schließlich nicht hier bei uns in Kiew, in Dnepopetrovsk oder vor Uman.

Ich kann verstehen, dass viele Menschen genervt sind und nichts mehr aus der Ukraine hören wollen. Es ist nicht ihr Krieg, über ihre Köpfe fliegen keine Raketen. Manche auf LinkedIn beschweren sich, wenn ich mal etwas über den Krieg schreibe. Ein paar Meter von meinem Schreibtisch steht Tag und Nacht ein gepackter Rucksack mit den wichtigsten Sachen, damit ich jederzeit schnell in die Schutzräume laufen kann. Ich muss jede Nacht damit rechnen, dass uns eine Rakete trifft und noch mehr Menschen sterben, die mir nahe sind. Das ist nun einmal unser Leben jetzt. Wir haben uns das nicht ausgesucht. Aber wir werden unsere Träume trotzdem nie aufgeben, erst recht nicht den von einer besseren Welt. 

Aufgezeichnet Anfang Mai von Fred Grimm. Bei Redaktionsschluss lebte Anastasiia Bylich immer noch in Kiew.

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