À la Saison

Polare Preiselbeere

Je später der Sommer, desto schöner die Früchte. Jetzt leuchtet Vaccinium vitis-idaea wieder im Unterholz. Sie ist eines der feinsten Sammelstücke des Waldes, scheut keine Expedition ins Extreme und ist: unser Obst der Saison

Polare Preiselbeere

Wer per Anhalter durch die Galaxis reist, sollte ein Handtuch dabei haben. Wer ans Ende der Welt will: Preiselbeeren. Es ist der 8. April 1895. Zwei Männer haben sich gut vier Wochen lang über Packeis gekämpft. Sie wollten die ersten Menschen am Nordpol sein – jenem Punkt, von dem aus jeder Schritt nach Süden führt. Doch gut vierhundert Kilometer vor dem Ziel türmt sich das Eis. Die Hundeschlitten kommen kaum noch voran. Also beschließt Fridtjof Nansen für sich und seinen Begleiter Hjalmar Johansen die Umkehr, nicht ohne an „diesem nördlichsten Lagerplatze (...) ein großes Festmahl“ zu veranstalten, „bestehend aus Labskaus, Brot und Butter, trockener Chocolade, gedämpften Preiselbeeren, nebst heißem Molkentrank“. Was es da zu feiern gab? Sie hatten zwar nicht den 90., aber immerhin den 86. Breitengrad überschritten – Nordrekord.

Von 1893 bis 1896 dauert die Expedition des norwegischen Ozeanografen Fridtjof Nansen. Fast drei Jahre lang driftet das Forschungsschiff Fram (Vorwärts) im Eis eingefroren durch die Polarregion. Es hat etliche Kilogramm getrocknete Preiselbeeren geladen. So gibt es zur Arktisdiät aus Robben- und Eisbärenfleisch auch Preiselbeergrütze oder Schnaps mit Preiselbeeren, „Wein“ genannt. „War es auch gerade keine edle Traube, so war es doch auch kein Krätzer. Er schmeckte gut und hinterließ keinen Katzenjammer“, lässt Nansen die Weltöffentlichkeit später wissen. Sein Buch „Fram over Polhavet“ (Vorwärts übers Polarmeer) erscheint 1898 unter dem Titel „In Nacht und Eis“ auf Deutsch.

Für so eine Reise ist die Preiselbeere klimatisch klar in der Pole-Position. Die kleine Rote aus der Familie der Heidekrautgewächse ist eine Nordnatur. Ihre immergrünen Sträucher stehen in Kiefernwäldern, Mooren und bergigen Regionen, sie überwintern problemlos unter dickem Schnee. Und ihre Früchte sehen nicht nur aus wie frisch lackierte Vitaminkapseln, sie enthalten wirklich viel Betakarotin, Vitamin B und C sowie Kalium, Kalzium, Phosphor und Magnesium. Gib Skorbut keine Chance!

Doch Vaccinium vitis-idaea ist nicht nur bittersüße Medizin. Seit Jahrtausenden erfreut die herbe Schwester der Heidelbeere neben der Gesundheit auch den Gaumen. Volkstümliche Namen wie Kronsbeere, Fuchsbeeri und Grante belegen ihre Nutzung überall im deutschen Sprachraum. „Preisel“ ist wohl dem Slawischen brusina, brusnice entlehnt und bedeutet braunrot.

Begrifflich sollte man die Braunrote übrigens nicht mit der Cranberry in einen Topf werfen: Crane berry, Kranichbeere, tauften Siedler in Nordamerika um 1650 eine Verwandte der Preiselbeere, weil ihre Blüte an einen Schnabel erinnert. Auf gut Niederdeutsch heißt sie auch bei uns Kranbeere, auf Hochdeutsch: Großfrüchtige Moosbeere. Die Preiselbeere wiederum hat im Englischen viele Namen, etwa lingonberry, foxberry und cowberry. Doch im Gegensatz zur Kranbeere gibt es sie bis heute meist nicht plantagenweise: Echte Preiselbeeren sind Sammelstücke.
Vielleicht erklärt das, warum sie sich in der Küche rar machen: etwas Marmelade hier, ein Klecks Würzsoße da. Doch sozialistischerweise bereichert „das rote Gold des Waldes“, wie es in Schweden heißt, alle gleichermaßen: vom spätsommerlichen Bauernkuchen bis zum überreifen Camembert, vom schwedischen Wildbret bis zum sibirischen Erfrischungstrunk.

Die vegane Beerenjagd findet vor allem im hohen Norden statt. Im finnischen Suomussalmi gibt es sogar eine jährlich ausgetragene Pflück-WM. Die spinnen, die Finnen? Dass sie ein besonderes Verhältnis zur Preiselbeere haben, zeigt schon ihr Nationalepos Kalevala. Darin wird die Jungfrau Marjatta vom Verzehr einer einzigen Preiselbeere schwanger. Ein Wunder? Ja, klar. Die Dinger sind halt einfach göttlich.

Fruchtige Flammkuchen
Ein Rezept von Karin Midwer

Für 4 Portionen (2 Flammkuchen):
Für den Boden: 300g Mehl, 1TL Salz, 180ml Wasser, 2EL Olivenöl
Für den Belag: 200g Sauerrahm, 2 Birnen, 50g Preiselbeeren, 250g Camembert, Salz und Pfeffer, einige Stängel Thymian

Zubereitung:
Die Zutaten für den Boden zu einem Teig verkneten und in zwei Portionen teilen. Jeweils dünn auf Backpapier ausrollen, Ränder etwas andrücken. Auf je ein Backblech (oder Backrost) ziehen. Sauerrahm mit Salz und Pfeffer kräftig abschmecken, gleichmäßig über den Boden streichen.

Birnen waschen, entkernen und in dünne Scheiben schneiden. Camembert in Scheiben schneiden. Birnen, Camembert und Preiselbeeren auf dem Boden verteilen. Die Teigränder mit Olivenöl bestreichen.

Bei 220ºC circa 15 Minuten im Ofen backen, bis der Flammkuchen zart gebräunt ist. Thymian abbrausen, Blättchen grob von den Stängeln zupfen und etwa drei Minuten vor Ende der Backzeit über den Flammkuchen geben. Fertig backen.

Und sonst so?

Neu im August: Apfel, Birne, Mais und Radicchio

Neu im September: Endivie, Feldsalat, Holunderbeere, Kürbis, Pastinake, Rosenkohl, Steckrübe, Topinambur

 

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